„Geflüchtete aus der Ukraine benötigen Unterstützung auf den unterschiedlichsten Ebenen.“

Interview mit der ukrainischen Trainerin Aksana Kavalchuk

Seit einem Jahr herrscht Krieg in der Ukraine. Viele Menschen mussten ihre Heimat verlassen. Tausende haben den Weg nach Deutschland gefunden und viele versuchen, sich hier ein Leben aufzubauen. Unsere Trainerin Aksana Kavalchuk, die aus der Ukraine stammt, gibt einen Einblick in die Situation.

Inwiefern betrifft der Krieg Dich selbst, beziehungsweise Deine Familie?

Ein Teil meiner Familie (Tanten, Cousinen, Großnichten und Großneffen) sowie fast alle meine Freunde sind nach wie vor in der Ukraine: in Odessa, wo ich geboren wurde, in Kyiv und im westlichen Teil des Landes. Keiner von ihnen wollte fliehen, zum einen, weil sie die Familien nicht auseinanderreißen wollten. Zum anderen arbeiten meine Verwandten in Berufen, die in der Ukraine gerade jetzt sehr gebraucht werden, zum Beispiel in der IT, der Kommunikationstechnik oder als Ingenieure.

Einige Freunde sind mit ihren Kindern, (Groß)Eltern, Katzen und Hunden im März 2022 nach Deutschland gekommen. Sie haben bei uns und unseren deutschen Freunden gelebt, bis sie Jobs in Deutschland fanden und eigene Wohnungen mieten konnten.

Aber die großen Sorgen sind geblieben: Nach jedem Raketenangriff gibt es am nächsten Morgen eine Art „Appell“, um sich zu vergewissern, ob es allen gut geht. Gott sei Dank musste ich persönlich noch keinen Todesfall im Familien- und Freundeskreis beklagen. Aber gerade jetzt im Winter – wenn wir gemütlich am Kamin sitzen, in der Sauna sind, oder uns an gutem Essen erfreuen – hat man unweigerlich ein schlechtes Gewissen, weil man sich nicht vorstellen vermag, wie beschwerlich das Leben in der Ukraine nach all den Zerstörungen der Infrastruktur ist.

Wie ändern sich die Bedürfnisse der Geflüchteten im Laufe der Zeit? Welche Hilfen braucht es am Anfang – und welche nach längerer Zeit?

Direkt nach der Ankunft brauchen die meisten Geflüchteten Ruhe und das Gefühl der Sicherheit. Dann benötigen die Menschen in erster Linie Unterstützung bei den Grundbedürfnissen, wie Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung. Auch der Bedarf an Informationen und Beratung ist enorm: 

  • Welche Möglichkeiten habe ich/ meine Kinder/ eventuell meine betagten Eltern oder andere Bekannte sowie Verwandte in Deutschland?
  • Welche Rechte und Pflichten habe ich, unter anderem als Mieter*in, als Patient*in oder als Elternteil eines schulpflichtigen Kindes?
  • Wie gehe ich vor, um Arzttermine zu vereinbaren, um Nachhilfe für mein Kind zu organisieren oder einen Antrag beim Jobcenter zu stellen?
  • Welche Versicherungen benötige ich? Muss ich eine Steuererklärung abgeben, und wenn ja, wie läuft das?
  • Welche Stellen und Behörden sind für mich zuständig?

Später, erst nach circa 8 bis 10 Wochen, werden Hilfe und Unterstützung bei der Integration in die Gesellschaft benötigt. Hier sind beispielweise Bildungsangebote, wie Deutschkurse oder Integrationskurse, zu nennen. Auch Hilfe bei der Suche nach Arbeit, nach Wohnraum und Nachbarschaftsangeboten sind wichtig. Besonders Menschen, die auf der Flucht Traumata erlebt haben, benötigen psychosoziale Beratung, die sie bei der Bewältigung ihrer Erfahrungen unterstützt.

Was nicht unterschätzt werden sollte: Die deutsche Regierung hat zu Beginn des Krieges mit ihren – gerade für Deutschland schnellen und mutigen – Beschlüssen zu Aufenthaltsstatus, Zugang zum Arbeitsmarkt und mehr unglaublich viel geschafft! Es macht einen Riesenunterschied, wenn man Planungssicherheit hat, der Zugang zur medizinischen Versorgung gesichert ist, es eine Perspektive für die Kinder gibt sowie die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung zu erhalten.

Die Ukrainer*innen waren überwältigt von der beispiellosen Welle der Empathie, Anteilnahme und Hilfsbereitschaft, die ihnen von der deutschen Bevölkerung entgegengebracht wurde.

Dank der Kommunikations- und Kollaboration-Tools, die durch die zwei Pandemie-Jahre bereits erprobt waren, konnten viele Freiwillige – Deutsche, Geflüchtete, ukrainisch- und russischsprechende in Deutschland lebende Menschen – sich organisieren und damit sehr schnell sowie effektiv unterstützen und helfen.

Wie haben sich die Bedürfnisse geändert, was können wir zum jetzigen Zeitpunkt tun?

Für viele Geflüchtete sind die grundlegenden Bedürfnisse mittlerweile geklärt. Doch auch nach mehreren Monaten ist nach wie vor Unterstützung auf den unterschiedlichsten Ebenen notwendig. 

  • Es braucht verschiedene Maßnahmen, um arbeitswilligen, oft sehr gut ausgebildeten und qualifizierten Ukrainer*innen den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Hier gibt es zahlreiche Projekte, unter anderem von sozialen Trägern, aber auch Programme von verschiedenen Ministerien, die auf ukrainische Fach- und Führungskräfte zugeschnitten sind.
  • Beratung zu Ausbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten, besonders für geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene.
  • Unterstützung bei der Kommunikation mit Behörden: Zwar ist vieles übersetzt und die meisten Behörden bieten Informationen auf Ukrainisch an, jedoch läuft die Kommunikation meistens noch schriftlich im „Beamtendeutsch“.
  • Ohnmacht, Angst, Empathie, Wut, Unsicherheit – die laufenden Entwicklungen stellen die Ukrainer*innen, die nach Deutschland gekommen sind, permanent vor große emotionale und berufliche Herausforderungen. Viele von ihnen waren selbst über Wochen und Monaten größten Gefahren für ihr Leben ausgesetzt, jetzt haben alle große Sorgen um ihre Freunde und Familien. Gleichzeitig müssen sie sich aber kontinuierlich mit äußerst komplexen Themen der Integration beschäftigen. Dies alles erfordert psychische Stabilität und ein Höchstmaß an Resilienz und Veränderungsbereitschaft. Aber nicht alle Geflüchtete verfügen gleichermaßen über diese Ressourcen. Deswegen benötigen sie auch zahlreiche Maßnahmen der psychosozialen Unterstützung. Geflüchtete brauchen Raum für Dialog und Orientierung, „Dialogue Spaces“ auf kontinuierlicher Basis, virtuell oder im Präsenzformat. Daraus könnten sich spezielle thematische Bedarfe herauskristallisieren und in einem anderen Format zur Vertiefung angeboten werden: Workshops, Trainings, Seminare oder Weiterbildungsangebote.

Welche Perspektiven siehst Du? Was macht Dir Hoffnung?

Die deutsche Wirtschaft kann sehr gut von der Zuwanderung ukrainischer Arbeitnehmer*innen profitieren. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders die hohe Leistungsbereitschaft, schnelle Auffassungsgabe und Wissbegierde sowie das ukrainische Mindset – gerade in Bezug auf Problemlösung und Handeln in Krisen – betonen. Ukrainische Mitarbeitende in Projektteams zu haben, wird auch dazu beitragen, die deutsche Wirtschaft resilienter und kreativer zu gestalten.

Und wenn man eine vorausschauende Perspektive einnimmt, wird es für deutsche Unternehmen wichtig sein, genug geeignetes Personal zu haben, um nach dem Kriegsende mit Wiederaufbauprojekten in der Ukraine zu starten. Dieses Personal kann bereits jetzt unter ukrainischen Geflüchteten rekrutiert werden. Durch Schulungen kann man sie weiterbilden und qualifizieren sowie an die deutschen Prozesse und Arbeitsweisen gewöhnen. 

In Bezug auf eine erfolgreiche deutsch-ukrainische Zusammenarbeit empfiehlt es sich, der deutschen Seite1 mehr Informationen über formelle und informelle Arbeitsprozesse sowie Strukturen in der Ukraine bereitzustellen. Auch konkrete Orientierungen über die Kommunikations- und Arbeitsweisen, in der Zusammenarbeit mit ukrainischen Partnern, sind von großer Relevanz. Denn nur um einige Beispiele zu nennen: Führungsverständnis, Planungsverhalten und Zeitmanagement sowie Gesprächsführung und Feedback-Regeln unterscheiden sich doch erheblich von deutschen Kommunikationsformen. Informationen würden helfen, Hintergründe von Entscheidungen besser einzuordnen sowie die Denk-, Kommunikations- und Handlungsmuster ukrainischer Partner besser zu verstehen und dadurch die Zusammenarbeit langfristig zu stärken.

1 ukrainische Seite übrigens auch, aber das steht in diesem Beitrag nicht im Fokus

Über Dr. Aksana Kavalchuk

Aksana Kavalchuk hat russisch-ukrainische Wurzeln. 1993 kam sie mit einem DAAD-Forschungsstipendium nach Deutschland. Nach der Promotion an der Ludwig-Maximilian-Universität in München am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie arbeitet sie als Trainerin und Beraterin mit den Schwerpunkten interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Seit 25 Jahren begleitet sie namhafte deutsche und internationale Unternehmen bei ihren Aktivitäten in Osteuropa.

 

Sie können helfen, Geflüchteten die Teilnahme an einem Deutschkurs zu ermöglichen. Jetzt für ein Sprachkursstipendium spenden!